Startseite » Familie » Langfristige Folgen von Gewalt gegen Kinder
Das Erleiden von Gewalt in der Kindheit erhöht das Risiko für psychische, psychosomatische und körperliche Erkrankungen im Erwachsenenalter. Gewalt kann auch zu einer geringeren Lebenserwartung führen.
Wird auf die Bedürfnisse eines Neugeborenen oder Kleinkinds, darunter auch das Bindungsbedürfnis, nicht adäquat eingegangen, nimmt dies Einfluss auf psychobiologischer Ebene (genetisch und hormonell). So kommt es bei anhaltendem Stress in Kindheit und Jugend zu Veränderungen der Größe und Funktion bestimmter Hirnbereiche. Wie gravierend diese sind, hängt vom Alter und vom Entwicklungsstand der einzelnen Hirnbereiche ab. Insbesondere die ersten drei Lebensjahre gelten als empfindliches Entwicklungsfenster. Erleidet ein Kind hier Gewalt (auch in Form von Vernachlässigung), kann dies „biologische Stressnarben“ hinterlassen und die Entwicklung und individuelle Ausreifung des psychobiologischen Stressverarbeitungssystems dauerhaft beeinträchtigen.
Dadurch sind die Betroffenen auch als Erwachsene noch anfälliger für körperliche und psychosoziale Belastungssituationen. Zu beachten ist dabei, dass „frühkindlicher Stress, der durch negative Bindungserfahrungen hervorgerufen wird, […] im Gehirn dauerhaft ähnliche Schaltkreise [aktiviert] wie Panikzustände und körperlicher Schmerz.“ (Wettig 2006: S. A2301).
Das Erleiden von Gewalt in der frühen Kindheit kann einen langanhaltenden Einfluss auf das psychische Erleben und das Verhalten haben. Es kann auf der emotionalen, der motivationalen sowie auch auf der kognitiven Ebene zu Beeinträchtigungen der Entwicklung führen. Das kann zum Beispiel eine eingeschränkte Aufmerksamkeit oder ein erhöhtes Aktivitätslevel sein. Gewalterfahrungen, die immer auch eine negative Bindungserfahrung bedeuten, erschweren es den betroffenen Kindern zu lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Dies trägt häufig zu verschiedenen herausfordernden Verhaltensweisen bei, die als missglückte Versuche verstanden werden können, sich selbst zu regulieren. „Die individuell zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien sind als Folge von Kindheitstraumatisierungen meist unreife, d. h., es stehen vor allem Strategien wie Wendung gegen das Selbst, Projektion bzw. Katastrophisieren, Generalisieren und Schwarz-Weiß-Denken im Vordergrund“ (Egle & Hardt 2012: S. 108). In alltäglichen Konflikten werden oft unpassende Konfliktbewältigungsstrategien angewandt, die das eigene Stresserleben weiter verstärken.
Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ist es durch die Folgen der Gewalterfahrung(en) schwieriger, die Entwicklungsaufgaben in der Kindheit, Jugend und im jungen Erwachsenenalter zu bewältigen. Dies wirkt sich wiederum negativ auf das Selbstwerterleben und die sozialen Fähigkeiten aus. Sie werden nachhaltig in ihrer Beziehungs- und Leistungsfähigkeit geschädigt. Dies zeigt sich häufig bei den schulischen Leistungen wie auch bei Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten bzw. später in der Partnerschaft.
Gewalt in Kindheit und Jugend erhöht als ein bedeutsamer Faktor das Auftreten von gesundheitlichem Risikoverhalten. Dies kann als Versuch betrachtet werden, die erhöhte Stressempfindlichkeit und das niedrige Selbstwerterleben zu kompensieren. Gesundheitliches Risikoverhalten bedeutet hier insbesondere frühes Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum, Bewegungsmangel und Übergewichtigkeit sowie häufig wechselnde Sexualpartner*innen und sexuell übertragene Erkrankungen. Außerdem ist ein Zusammenhang zwischen sexuellen oder körperlichen Gewalterfahrungen in der Kindheit und der Häufigkeit von Suizidversuchen im Erwachsenenalter in Studien nachgewiesen worden.
Eine bedeutende soziale Folge von Gewalt in der Kindheit sind Probleme mit sozialen Kontakten, insbesondere mit Gleichaltrigen. Auch der Aufbau einer intimen Beziehung bzw. Partnerschaft im Jugend- und Erwachsenenalter ist oft problematisch. Der berufliche Erfolg ist häufig beeinträchtigt. Außerdem besteht ein erhöhtes Risiko, später gegenüber den eigenen Kindern selbst gewalttätig zu sein. „Andere zentrale soziale Folgen sind die Veränderungen der Rollen der Beteiligten, z. B. vom Kind zum Opfer und zum Zeugen, von der Mutter zur Zeugin oder zur Mittäterin – Veränderungen, die ausgeprägte innerpsychische und soziale Anpassungsvorgänge nötig machen“ (Thun-Hohenstein 2008: S. 642).
Wird die Gewalt gegen das Kind aufgedeckt, dann kann dies gerichtliche bzw. strafrechtliche Folgen haben. Zum Schutz des Kindes kann es zu einer Fremdunterbringung oder zu einer Trennung von der Familie kommen, was für das Kind wiederum eine erneute Traumatisierung mit sich bringen kann.