Startseite » Kinder » Einflussfaktoren auf die Bindung im Kontext von Flucht/Migration
Hat ein Säugling keine Gelegenheit, eine längere emotionale Bindung zu einer Bezugsperson einzugehen, z. B. weil er in einem Waisenhaus mit zu wenigen oder häufig wechselnden Betreuer*innen untergebracht ist, kann das zu häufigem Weinen, Rückzug bis hin zu Depressionen führen. Eine emotionale Bindung kann jedoch auch noch im Alter von etwa bis zu sechs Jahren aufgebaut werden, wenn in diesem Zeitraum eine konstante und zugewandte Bezugsperson für das Kind da ist.
Konsequenzen für die Gewaltprävention:
Insbesondere im Zusammenhang mit Flucht oder Migration kommt es häufig zu einer Trennung zwischen Eltern bzw. weiteren Bezugspersonen und Kindern. Je nach Alter des Kindes bei der Trennung und Dauer der Trennung kann es einen „Verlust“ der emotionalen Bindung geben. Lange Trennungszeiten machen es für Bezugspersonen und Kinder schwieriger, eine befriedigende Beziehung herzustellen, insbesondere wenn die Trennung in den ersten drei Lebensjahren des Kindes erfolgte.
Als hilfreich für den erneuten Aufbau einer positiven Bindung nach dem Wiedersehen ist es, wenn die Pflegepersonen in der Zeit der Abwesenheit der Bezugspersonen weiter von diesen sprechen und wenn durch die zur Verfügung stehenden Medien weiterhin Kontakt gehalten wird. Außerdem sollten die Kinder nach dem Wiedersehen nicht unter Druck gesetzt werden, gleich glücklich und froh zu sein und Liebe und Zuneigung gegenüber den (für sie zunächst oft fremden) Bezugspersonen zu zeigen.
Eine sichere Eltern-Kind-Bindung entsteht insbesondere auch durch die emotionale Zuwendung der Eltern, durch Einfühlungsvermögen, Fürsorge und angemessene Reaktionen auf die Signale und Bedürfnisse des Kindes. Dabei spielt eine besondere Form der Interaktion zwischen Bezugspersonen und Kindern eine bedeutsame Rolle. In einer durch „Synchronizität“ geprägten Interaktion reagieren die Bezugspersonen auf die Signale des Kindes auf eine zeitlich und rhythmisch abgestimmte und angepasste Art und Weise. Beide spiegeln und erwidern den emotionalen Zustand des anderen. Dies kann z. B. in Form eines einfühlsamen Spiels sein.
Zur Veranschaulichung kann das Video „Nurturing and Interactions“ unter https://vimeo.com/channels/fmdvids genutzt werden.
Konsequenzen für die Gewaltprävention:
Kinder von Bezugspersonen, die unter psychischen Belastungen und Störungen leiden, z. B. unter Depressionen oder Traumafolgestörungen, zeigen oft einen unsicheren Bindungsstil. Die Bezugspersonen verhalten sich oft ängstigend, widersprüchlich und unangenehm gegenüber dem Kind. Sie halten das Kind auf Distanz oder sind selbst ängstlich und unsicher, was sich auf das Kind überträgt und zu Stress führt.
Die Lebenssituation infolge von Flucht und Migration kann psychische Belastungen und Störungen begünstigen. Betroffene Eltern bzw. Bezugspersonen sollten sich hierfür Hilfe und Unterstützung suchen. Oft helfen therapeutische Angebote oder Beratungsstellen sehr gut.
Bindung entsteht auch durch Bindungssignale, wie z. B. Hilflosigkeit, und Bindungsverhalten, wie z. B. Lächeln oder Hinterherkrabbeln, aufseiten des Kindes. Neben dem Verhalten der Bezugspersonen hat also auch das Temperament des Kindes Einfluss auf die Bindung. So können Babys mit einem „einfachen“ Temperament z. B. Kontaktangebote leichter annehmen. Bindung ist jedoch als „Wechselspiel“ zu sehen, d. h. auch Kinder mit einem „schwierigen“ Temperament oder Kinder, die unter einer Krankheit oder Behinderung leiden, können bei einem „passenden“ Umgang durch die Bezugspersonen eine sichere Bindung entwickeln.
Konsequenzen für die Gewaltprävention:
Aus bindungstheoretischer Sicht haben „schwierige“ Kinder einen erhöhten Bedarf an emotionaler Zuneigung und an Unterstützung bei der Regulierung ihrer Gefühle, anstelle von Bestrafung und Ablehnung. Für die Bezugspersonen kann es manchmal sehr herausfordernd sein, „passend“ auf das schwierige Verhalten des Kindes zu reagieren. Hier kann es hilfreich und wichtig sein, sich möglichst früh Hilfe zu suchen, z. B. bei einem Erziehungskurs oder in einer Erziehungsberatungsstelle. Dadurch kann verhindert werden, dass sich langfristig eine unsichere Bindung zwischen Bezugsperson und Kind aufbaut. Für die Inanspruchnahme der Hilfe- und Unterstützungsangebote muss sich niemand schämen.
Familiäre Umstände, wie z. B. der Verlust der Arbeitsstelle, Konflikte in der Paarbeziehung der Eltern oder Trennung, aber auch gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen, können sich negativ auf das Einfühlungsvermögen der Bezugspersonen und damit auf die Bindung auswirken. Auch die Bewertung der eigenen Bindungserfahrungen der Eltern als Kind hat einen Einfluss auf die Bindung zu den eigenen Kindern. Die Fähigkeit, auch negative Erfahrungen und Erlebnisse anzunehmen und verständnisvoll und vergebend auf das Verhalten der eigenen Eltern zurückzublicken ist dabei wesentlich wichtiger, als die tatsächlichen Fürsorgeerfahrungen.
Konsequenzen für die Gewaltprävention:
Der Einfluss der Lebensumstände auf den Umgang innerhalb der Familie sollte bei der Gewaltprävention mit im Blick behalten werden. Z. B. kann die Unterbringung in einer geräumigeren Wohnung oder in einer ruhigeren Umgebung entlastend und gewaltverringernd wirken, ebenso wie Maßnahmen zur Verbesserung der Paarbeziehung. Studien zu türkischen Familien ergaben, dass die Weitergabe familialer Gewalt auch durch eine bessere Integration der Mutter verringert werden kann.