Startseite » Behinderung » Zugang und Nutzung des Unterstützungs- und Hilfesystems
Angebote der Behindertenhilfe werden offenbar deutlich weniger von Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund sowie von deren Angehörigen genutzt als von Menschen ohne Migrationshintergrund (Kutluer 2019: S. 190).
Gerade für geflüchtete Menschen liegen viele Zugangshürden in den rechtlichen Regelungen bzw. deren Umsetzung in der Praxis.
Der rechtliche Status von zugewanderten/ geflüchteten Menschen entscheidet u. a. darüber, ob und in welchem Umfang sie Zugang zum deutschen Gesundheits- und Sozialsystem haben.
Anerkannte Geflüchtete (mit einem Aufenthaltstitel) können ab dem Zeitpunkt der Anerkennung Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung werden und die entsprechende Versorgung bekommen.
Asylsuchende sind nicht gesetzlich krankenversichert. In den ersten 18 Monaten nach der Einreise erhalten sie Gesundheits- und Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Diese sehen eine eingeschränkte medizinische Versorgung vor. Dem Gesetz liegt die Annahme zugrunde, dass Asylsuchende sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten. Langfristige Behandlungen sind daher nicht vorgesehen. So sind nach § 4 lediglich „zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände […] die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren. (…)“ (§ 4 AsylbLG).
Nach § 6 AsylbLG können „sonstige Leistungen“ beantragt werden. Dazu zählen ebenfalls nur akut notwendige Heil- und Hilfsmittel, wie z. B. Krankengymnastik, Seh- und Hörhilfen oder Prothesen, aber ggfs. auch Heil- und Genesungskuren, Rehamaßnahmen, Leistungen der Eingliederungshilfe, Fahrtkosten oder Sprachmittlerdienste (Schülle 2019: S. 150 f.).
Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis unterschiedlich ausgelegt. Oft werden keine Behandlungen oder Hilfsmittel für langfristige Behinderungen oder chronische Erkrankungen gewährt – oder erst nach Widerspruch (Paritätischer Wohlfahrtsverband 2017: S. 26; Schülle 2019: S. 150).
Nach den 18 Monaten haben sie Anspruch auf die Leistungen des Sozialgesetzbuchs XII, also entsprechend der Gesetzlichen Krankenversicherung (Schülle 2019: S. 148).
Gerade Asylsuchende haben oft Angst abgeschoben zu werden, wenn sie staatliche Hilfen in Anspruch nehmen. Diese Angst ist allgegenwärtig, solange das Asylverfahren noch läuft (Köbsell 2019: S. 70).
Umsetzung, Auslegung und Leistungsumfang des § 4 AsylbLG sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt. Und auch kommunal gibt es Unterschiede bei der konkreten Handhabung.
So haben manche Asylsuchende Zugang zu den Gesundheitsleistungen über den sogenannten Behandlungsschein und manche über die Gesundheitskarte.
Vor einer medizinischen Behandlung muss vielerorts ein persönlicher Antrag bei der zuständigen Sozialbehörde gestellt werden. Diese gibt bei Genehmigung einen Behandlungsschein aus, mit dem ein Arzt bzw. eine Ärztin aufgesucht werden kann. Bei einer Überweisung zum Facharzt oder einer weiteren Behandlung muss oft ein erneuter Antrag gestellt werden. Im Notfall ist auch eine Behandlung ohne Schein möglich.
Medizinische Laien (Sozialamtsmitarbeitende) müssen hier über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung entscheiden. Dies ist rechtlich nicht zulässig, jedoch häufig Praxis (Schülle 2019: S. 156).
Außerdem stellt das Verfahren für die Betroffenen einen zusätzlichen Aufwand dar, der sich für Menschen mit Behinderungen noch vergrößert. „Die praktische Durchsetzung therapeutischer Behandlungen verlangt von den Betroffenen oftmals gesteigerte Anstrengungen, langwierige amtsärztliche Gutachterverfahren und die Inanspruchnahme behördlichen und gerichtlichen Rechtsschutzes.“ (Schülle 2019: S. 156).
Hier kann von einer strukturellen Barriere und Diskriminierung im Zugang zu Gesundheitsleistungen gesprochen werden. (Schülle 2019: S. 157).
Dort wo eine Gesundheitskarte ausgegeben wird, ist den geflüchteten Menschen eine einfachere und bessere Gesundheitsversorgung möglich. Nach dem „Bremer Modell“ soll ein niedrigschwelliger und selbstbestimmter Zugang zu allen Einrichtungen des Gesundheitswesens möglich sein.
Eine sachgerechte Auslegung der §§ 4 und 6 AsylbLG ermöglicht außerdem eine Gesundheitsversorgung, die annähernd der der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Asylsuchende Personen mit Behinderungen können sich hier medizinisch gut versorgen, weitgehend so, wie es die UN-BRK fordert. (Schülle 2019: S. 157 ff.).
Neben den rechtlichen und strukturell-praktischen Hürden gibt es auch „kulturelle“ bzw. migrationsbedingte Hindernisse, die für Menschen mit Behinderungen und Migrationshintergrund die Nutzung des deutschen Hilfesystems erschweren.
Zugewanderte Menschen übertragen oft ihre Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem in ihrem Herkunftsland auf das deutsche Hilfesystem. Entsprechend sind ihre Erwartungen an die Fachkräfte und Abläufe, z. B. in Krankenhäusern oder Beratungsstellen (Kutluer 2019: S. 192). Unterstützungsangebote, die aus den Herkunftsländern nicht bekannt sind, werden oft nicht nachgefragt bzw. in Anspruch genommen, da das Wissen darüber fehlt (Kohan 2019: S. 43).
In den Herkunftsländern werden Behinderungen oft anders bewertet und verstanden als in Deutschland. Entsprechend ist auch der Umgang mit Behinderungen ein anderer, was sich in den unterschiedlichen Unterstützungsformen widerspiegelt.
In manchen Herkunftsländern werden Behinderungen einer Krankheit gleichgesetzt und als rein medizinisch-biologisches Problem verstanden. Das hat zur Folge, dass davon ausgegangen wird, dass die Behinderung durch eine medizinische Behandlung behoben werden könnte. Betreuungsangebote werden möglicherweise als medizinische Angebote missverstanden. Ist eine Heilung nicht möglich, kann dies zu Enttäuschung führen. Teilweise werden ergänzend zur oder anstelle der Inanspruchnahme von Hilfen traditionelle, magische oder religiöse Rituale und Heilmethoden genutzt. (Kutluer 2019: S. 192 ff.)
In manchen Herkunftsgesellschaften werden Behinderungen (z. B. auch psychische Auffälligkeiten) stigmatisiert. Manche zugewanderten Menschen aus diesen Gesellschaften scheuen sich daher, medizinischen oder psychosozialen Fachkräften von ihrer eigenen Behinderung oder von der Behinderung eines Familienmitglieds zu erzählen. Ohne Diagnose bleiben viele Unterstützungsmöglichkeiten in Deutschland jedoch verwehrt. (Kohan 2019: S 56)
In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass zwischen Menschen mit einer Behinderung und ihren Familienangehörigen eine sehr enge Beziehung besteht. Die innerfamiliäre Bindung scheint bei Menschen mit Migrationsgeschichte, je nach Herkunftsland, besonders stark zu sein. Die Inanspruchnahme von außerfamiliären Hilfen und Angeboten ist für die Familienmitglieder oft nicht denkbar. Oder sie können nur mit ambivalenten Gefühlen begleitet angenommen werden. (Kohan 2019: S 54)
Professionelle Hilfe wird oft erst dann gesucht, wenn die Familie die Betreuung nicht mehr leisten kann. Oft wird dann eine sofortige Hilfe erwartet, die nicht immer möglich ist (Kutluer 2019: S. 197).
Nicht alle Hilfeeinrichtungen verfügen über einen Dolmetscherdienst bzw. über ausreichend geschulte Dolmetscher*innen. Oft übernehmen aus praktischen Gründen Familienmitglieder oder Bekannte die Übersetzung, was zu Schwierigkeiten bei der Verständigung, zu Rollenkonflikten und zu Überforderung führen kann. Bei der Verständigung ist neben der Sprache jedoch auch der kulturelle Hintergrund von Bedeutung, der ebenfalls zu Missverständnissen führen kann. (Kutluer 2019: S. 198)
Die Vorstellungen und Anforderungen der deutschen Behindertenhilfe unterscheiden sich oft grundlegend von dem Verständnis der Herkunftsgesellschaft. Sie fordert und fördert z. B. eine frühe Selbstständigkeit und Eigenständigkeit der Menschen mit Behinderung (Kohan 2019: S 54 ff.).
Auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Menschen bzw. Familien mit Migrationsgeschichte sind viele Unterstützungs- und Versorgungssysteme in Deutschland nicht ausreichend eingestellt. Außerdem fehlt es oft an verständlichen, mehrsprachigen Informationen über das Unterstützungs- und Versorgungssystem und über mögliche Leistungsansprüche (Westphal/Wansing 2019: S. 8).