Startseite » Behinderung » Unterstützung von Eltern bzw. Familien mit Zuwanderungsgeschichte
Die Angehörigen, besonders die Eltern, sind bei der Unterstützung von Menschen mit einer Behinderung häufig von zentraler Bedeutung. Welche Anliegen und Bedarfe zugewanderte Eltern oft an das Hilfesystem haben und welche Ansätze vonseiten der Fachkräfte hilfreich und wichtig sein können, erfahren Sie hier.
Nach Amirpur (2016: S. 257 ff.) bestehen bei Eltern mit Migrationshintergrund und einem Kind mit Behinderung bei der Suche nach Unterstützung drei Kernthemen:
Zugewanderte Familien befinden sich öfter in einer schlechteren sozioökonomischen Situation.
Zum Teil werden Bildungsabschlüsse und Qualifikationen aus dem Herkunftsland nicht anerkannt. Und auch die Sprachkenntnisse können eine Barriere sein, eine adäquate Arbeitsstelle zu finden. Für Familien mit Kindern mit Behinderung kann diese Situation besonders prekär werden.
„In dieser Situation werden Bemühungen um finanzielle Hilfen für viele Familien zu einem Existenzkampf“ (Amirpur 2015: S. 17).
Vielen Eltern ist die bestmögliche Bildung ihrer Kinder wichtig. Sie sehen Bildung als Schlüssel zu einem guten Leben und kämpfen um gute Bildungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Gesonderte Strukturen wie z. B. die Förderschule sehen viele kritisch.
Die Eltern möchten die Selbstständigkeit und Handlungsbefähigung der Kinder stärken. Dies hängt auch mit dem als schwer zugänglich und unverlässlich empfundenen Hilfesystem zusammen. Gleichzeitig werden viele der Eltern mit Machtgefällen und konfrontiert. Es fehlen Informationen und Zugänge zu den Hilfen, so dass die Kinder in Bezug auf Bildung strukturell benachteiligt sind. (Amirpur 2016: S. 264 f.)
Seltener führt die Suche nach Entlastung Eltern zum Hilfesystem. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn kein oder nur ein kleines soziales Netzwerk als Unterstützung besteht oder wenn die soziale Absicherung fehlt.
Außerdem sind es oft Eltern bzw. Mütter, die traumatische Erfahrungen (mit der Schwere der Behinderung oder durch die Kämpfe mit dem Hilfesystem) gemacht haben, die Entlastung suchen. (Amirpur 2016: S. 271 f.)
In Anbetracht der zahlreichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen ist Empowerment (im Sinne der Selbstermächtigung) als zentrales Leitprinzip bei allen Maßnahmen zu berücksichtigen.
Eine wichtige Unterstützung ist die ethnische Community. Dazu zählen Familie, Freundeskreis oder Migrantenselbstorganisationen. Diese bieten Informationen und Hilfe. Sie teilen neben der Sprache und kulturellen Gemeinsamkeiten auch den sozialen Hintergrund und die Diskriminierungserfahrungen. Sie bieten einen Raum, in dem die Erfahrungen von Ausgrenzung und Benachteiligung zur Sprache kommen dürfen.
Die Informationsweitergabe in den Communities ist oft jedoch eher zufällig, das Wissen beruht oft auf eigenen Erfahrungen, Fach- bzw. Spezialwissen fehlt oft. Außerdem verfügt nicht jede Familie über ein solches Netzwerk in Deutschland. Initiativen von Personen, die sich aus ihrer eigenen Erfahrung heraus für andere engagieren, werden bislang nur wenig durch das Hilfesystem unterstützt. (Amirpur 2015, S. 23 ff.)
Die Stärkung und Beteiligung der Communities sollte bei der Begleitung der Eltern mit bedacht werden.
Um Zugang zu den Hilfen zu bekommen und Diskriminierungserfahrungen durch Ämter und Institutionen zu vermeiden, ist die Begleitung dorthin für viele Eltern sehr wichtig (Amirpur 2015: S. 20). Dabei ist es hilfreich, wenn die begleitende Person auch als Sprachmittler*in unterstützen kann.
Auch bundesweite Netzwerke und Fachstellen sind wichtige Kontakt- und Unterstützungsstellen. Allerdings sind diese in ländlichen Gebieten nur schwer zugänglich. Um die materiellen und ideellen Hilfen erhalten zu können, kann es wichtig sein, den Betroffenen den Weg dorthin zu ermöglichen (Engin 2019: S. 115).
Besonders asylsuchende Menschen brauchen häufig viel Beharrlichkeit und anwaltliche Unterstützung, um ihre Ansprüche auf Hilfen durchzusetzen. Unterstützung hierzu bieten z. B. Wohlfahrtsverbände, Migrationsberatungsstellen und Initiativen von Geflüchteten.
In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, wenn zu Beginn des Asylverfahrens eine rechtliche Betreuung angeregt wird (Paritätischer Wohlfahrtsverband 2017: S. 27). Auch kann bereits während des Asylverfahrens ein Schwerbehindertenausweis beantragt werden. Dieser ermöglicht den Zugang zu Leistungen. Die Regelungen und Abläufe hierzu sind allerdings nicht verbindlich geregelt. (Köbsell 2019: S. 70)
Bei den rechtlichen Möglichkeiten sind immer die konkreten Umstände im Einzelfall zu berücksichtigen.
Eine praxisorientierte Einführung in die rechtlichen Grundlagen bietet die Broschüre „Migration und Behinderung. Rechtliche Grundlagen rund um Aufenthaltsstatus und Sozialleistungssystem.“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Niedersachsen e.V., unter: www.paritaetischer.de/uploads/media/Migration_und_Behinderung_01.pdf
Eine umfangreichere Expertise zu „Sozialleistungen für Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht. Eine Übersicht zu den rechtlichen Rahmenbedingungen“ von Barbara Weiser (erschienen im November 2016) finden Sie hier:
http://www.fluchtort-hamburg.de/fileadmin/user_upload/Expertise_Sozialleistungen_2016_web.pdf
„Information und Zugang zum Hilfesystem“ zu schaffen, stellt laut Grotheer/Schroeder (2019: S. 88) ein „zentrales Problem und eine komplexe Herausforderung“ dar.
Wie auch Eltern ohne Migrationsgeschichte brauchen Eltern mit Migrationsgeschichte Wissen über behinderungsspezifische Themen. Wichtig sind verständliche (also keine Behörden- oder Fachsprache) und mehrsprachige Informationsmaterialien zu Hilfe- und Förderangeboten sowie zu den Zuständigkeiten und Verfahrenswegen (Amirpur 2015, S. 24). Dabei ist zu beachten, dass viele Menschen aus Gesellschaftssystemen zugewandert sind, in dem es ein anderes Verständnis von „Behinderung“ und kein institutionelles und so ausdifferenziertes Hilfesystem wie in Deutschland gibt.
Besonders zugewanderte Menschen mit einer geringen Schulbildung können durch viele (insbesondere schriftliche) Informationsmaterialien kaum erreicht werden. Für sie ist oft eine persönliche Ansprache und (muttersprachliche) Begleitung wichtig. Dadurch kann ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden, das das Verständnis für das Hilfesystem und die Bereitschaft für die Angebote fördert (Kohan 2019: S. 57 ff.).
Mehrsprachige Informationsbroschüren zur „Hilfe bei chronischen Erkrankungen“ bzw. zur „Hilfe für chronisch kranke Kinder und Jugendliche“ (für Eltern bzw. Jugendliche) des Projekts MiMi-Reha finden Sie unter: www.mimi-bestellportal.de/shop/
Das Projekt MiMi-Reha bietet auch muttersprachliche Informationsveranstaltungen an. Informationen dazu unter: www.mimi-reha.de/ bzw. www.mimi-reha-kids.de/
Bei Familien aus gemeinschaftsbezogenen Herkunftsgesellschaften sind die familiären Bindungen oft sehr eng. Für sie sind (muttersprachliche) Angebote, die sich an die ganze Familie richten, hilfreich. Auch der Austausch mit Menschen, die sich in einer ähnlichen Lebenslage befinden, hat für sie eine zentrale Bedeutung und bringt Entlastung.
Der Aufbau von Selbsthilfegruppen ist daher zentral. Diese sollten (zumindest zu Beginn) durch eine (muttersprachliche) Fachkraft moderiert und begleitet werden.
Auch Freizeitgruppenaktivitäten, bei denen die Angehörigen miteingeschlossen werden, können Austausch und Gemeinschaft fördern. Hier kann die Begleitung durch muttersprachliche Fachkräfte wichtig sein. (Kohan 2019: S. 58 f.)
Eine kommentierte Checkliste zum Aufbau von kultursensiblen Selbsthilfegruppen, herausgegeben von der Lebenshilfe, finden Sie hier:
Zum einen sind betroffene Eltern als Expert*innen für ihre Lebenssituation anzuerkennen. Außerdem gibt es viele betroffene Eltern, die viel recherchiert und zahlreiche Kontakte zum Hilfesystem aufgebaut haben. Diese sind dadurch sozusagen auch zu Fachexperten für die Situation zugewanderter Familien mit einem Familienmitglied mit Behinderung geworden.
Manche engagieren sich für andere Familien und gründen sogar Vereine zur Begleitung und Beratung von Betroffenen. Es ist wichtig, diese wertvolle Arbeit finanziell und auch ideell anzuerkennen und zu unterstützen. Ansonsten droht den Ehrenamtlichen eine Überlastung (Amirpur 2015: S. 24).
Durch die Organisation von Austauschforen können engagierte Einzelpersonen miteinander in Kontakt kommen. Ein „Netzwerk aus Brückenbauer*innen“ (Amirpur 2015: S. 22) kann so entstehen.
Oft ist bei den Beratungsstellen und Hilfeeinrichtungen das Wissen auf einen der Bereiche Migration oder Behinderung spezialisiert. Eine verstärkte Vernetzung und Kooperation der Beratungsstellen für Migrant*innen bzw. Migrationssozialarbeit und der Akteure der Behindertenhilfe ist für eine Verbesserung der Beratung und Begleitung der Betroffenen wichtig (Amirpur 2015: S. 22).
Die bestehenden bundesweiten Netzwerke und Fachstellen sind insbesondere in städtischen Gebieten aktiv (Engin 2019: S. 115), daher ist die Vernetzung und der Austausch in ländlichen Gebieten umso wichtiger.
11 Vorschläge und Handlungsoptionen für die Gestaltung einer inklusiven Kommune finden Sie unter: https://fbk-bonn.de/images/Netzwerk_Flucht/PDF/Materialien/Artikel_Konzepte_20170119.pdf